Waffenlose Selbstverteidigung

Waffenlose Selbstverteidigung

Das Erste, was zur waffenlosen Selbstverteidigung zu sagen ist: Bewaffnen Sie sich! Kein Mensch würde ohne Waffe in den Krieg ziehen. Dieses Kapitel dreht sich um die Verteidigung ohne Waffe – doch in der Selbstverteidigung gilt der Ausspruch: “If you find yourself in a fair fight, your tactics suck.”― John Steinbeck. Wenn Sie sich in einem fairen Kampf wiederfinden, hat Ihre Taktik versagt.

Notwehrlagen sind gefährliche Situationen, in denen Sie sich nicht auf Ihre Kampftechniken verlassen sollten. Sie sollten den Kampf vermeiden, notfalls flüchten – und wenn Sie kämpfen müssen, kämpfen Sie um Ihr Leben. Und anschließend verbleiben Sie nicht vor Ort, sondern verlassen Sie die Gefahrenzone so schnell und entschlossen, wie es möglich ist.

Plötzlich Gewalt?

Situationen, in denen Sie sich verteidigen müssen, kündigen sich in der Regel an. Sofern Sie aufmerksam sind, erkennen Sie die typischen Anzeichen eines bevorstehenden Angriffs: Der Angreifer nähert sich, er blickt sich verstohlen um, holt aus und schlägt zu. Oder, im Falle eines Disputs mit einem Menschen, dem die „Hand mal ausrutscht“, erleben Sie eine zwischenmenschliche Eskalation, wütende und drohende Worte und Gesten und schließlich, auch hier, das Ausholen und Zuschlagen.

Je früher Sie den Angriff erkennen, desto besser können Sie sich aufstellen. Aus welcher Position heraus können Sie fliehen oder kämpfen? Wie können Sie Distanz aufbauen um sich zu schützen? Wer sind Ihre Verbündeten, wer zählt ggf. zu den Angreifern und wie können Sie am besten überleben? Der Kampf sollte vermieden werden, aber wenn er stattfindet: Geben Sie alles. Das geht am besten mit einer Waffe.

Hierzu folgende Übung:

Schließen Sie die Augen. Machen Sie das ruhig, wenn Sie den Abschnitt fertiggelesen haben. Sobald Sie die Augen aufmachen, haben Sie zehn Sekunden Zeit, einen Gegenstand zu greifen, mit dem Sie sich verteidigen. Und: los!

Was halten Sie in den Händen? Einen Stift? Ein Buch? Ihren Laptop? Tasse, Glas, Flasche, Bügeleisen, Ihre Tastatur? Nun stellen Sie sich vor, der Angriff beginnt.
Wie würden Sie mit Ihrem Tool zuschlagen? Welche Technik führen Sie dabei aus? Es ist nicht so wichtig, wie angenommen. Intuitiv beschleunigen wir Schlag oder Stichwaffen und führen Angriffe aus.

Wie kämpfe ich?

Kampftechniken müssen trainiert werden, so viel ist klar. Doch nicht die technisch überlegende Variante und Technik, die Sie einsetzen, wird den Unterschied machen. Entscheidend ist die innere Einstellung: Die Bereitschaft, so stark anzugreifen und sich zu wehren, bis Sie entkommen können. Mit dieser Einstellung sind zwei Dinge verbunden, die wichtig sind:

1. Druck nach vorne: Gewalt auf der Straße wird vor allem durch massiven Druck geprägt. Kein Austänzeln, kein Zurückweichen und überprüfen, ob der andere genug hat. Sollte es anders sein, haben Sie auch kein Problem damit, zu fliehen. Keine Vergewaltigung, kein Mord, kein Attentat ohne unerbittlichen Gang nach vorn. Das hat Konsequenzen: Wer zögert, wer zurückweicht oder gar im Rückwärtsgang ist, wird es sehr schwer haben.

2. Keine Fairness: Wer sich löst, ohne anzugreifen, verliert. Wer Rücksicht nimmt, verliert. Das Potential, den anderen zu verletzen, sollte in einem Kampf um Leben und Tod (und einen anderen sollten Sie ohnehin niemals führen) akzeptiert werden. Das Ziel ist das Überleben, doch die Unversehrtheit des Gegners darf keine Rolle spielen.

Mit diesem Wissen ausgestattet verhalten Sie sich wie folgt: Die Auswirkungen eines Kampfes können verheerend sein, also ist jeder nicht ausgetragene Kampf ein gewonnener Kampf.

Was ist in dieser Lage zu tun?

Sind Sie zur falschen Stelle am falschen Ort, überprüfen Sie Ihre Möglichkeiten zu fliehen. Ein „Bail-out“ ist vielleicht möglich – lenken Sie ab und entziehen Sie sich! „Sie haben allen Grund sich so aufzuregen, ich sagen Ihnen was: Ich hole meinen Vorgesetzten, der hat größere Befugnis, dann lösen wir Ihr Problem.“ – und dann gehen Sie. Schließen Sie eine Tür, machen Sie Strecke. Das ist besser als verletzt zu werden oder zu verletzen.

Können Sie sich nicht entziehen, deeskalieren Sie. Siezen Sie, zeigen Sie Verständnis (heucheln Sie zur Not), bieten Sie an, an einer Lösung zu arbeiten. Und dann entziehen Sie sich.

Sofern es Ihnen bei der Deeskalation nicht gelungen ist, einen spitzen oder harten Gegenstand zu greifen, den Sie werfen oder mit dem Sie zuschlagen kann, solange Sie nicht einen Tisch, einen Begrenzungspoller oder einen Barhocker zwischen den Angreifer und sich bringen können, müssen Sie sich mit Händen und Füßen wehren. Und das klingt genauso, wie es gemeint ist.

Und nun, jetzt schließlich, zum unbewaffneten Kampf

Ihre Hände sollten erhoben sein, Handflächen zeigen zum Aggressor. Die Botschaft (für den Angreifer aber auch für Zeugen): Ich will das nicht. Und: Ich lasse das nicht zu.

Sammeln Sie sich und fassen Sie sich ein Herz. Ihre Einstellung ist entscheidend.

Wenn es eindeutig auf einen Kampf hinausläuft: Schlagen Sie zuerst zu. In der Selbstverteidigung gibt es keine Ringglocke, keine Fairness und es sollte kein falsches Ehrgefühl geben. Der Hinterhalt ist das gefährlichste Mittel, und insofern auch das erfolgversprechendste im asymmetrischen Kampf.

Im Notwehrrecht explizit verankert: Sie dürfen sich gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff (sofern Sie nicht weglaufen können) verteidigen. Man muss sich nicht zuerst schlagen, erstechen oder erschießen lassen, bevor man aktiv wird.

Ein gutes Ziel ist ein Ziel, dass Sie erreichen können. Schlagen Sie mit der offenen Hand ins Gesicht, visieren Sie die Augen an. Ein Finger im Auge hat eine große Wirkung. Schlagen Sie auf den Hals, zum Kinn. „Aim small, miss small“ – Sie sollten schon zielen. Doch in einer echten Kampfsituation herrscht eher Chaos. Seien Sie nicht zu ehrgeizig beim Zielen. Treten Sie den Angreifer (statistisch gesehen werden Sie es wahrscheinlich mit einem Mann zu tun haben) in den Genitalbereich. Wirkung ist entscheidend. Sie wollen den Gegner stoppen und überleben – Verletzungen sind nicht das Ziel, müssen aber in Kauf genommen werden.

Nachdem Sie den Kampf eröffnet haben, schlagen Sie mehrmals hart zu, oder Sie schubsen den Gegner – um Ihr Entkommen zu sichern. Sprinten Sie am Gegner vorbei – in eine Richtung, in die Sie bereits schauen. Das Ziel ist: andere Menschen, Licht, Geschäfte, (Wach-) Personal, Polizei. Machen Sie Alarm und retten Sie Ihre Haut. Heftigkeit zahlt sich in der Selbstverteidigung aus.

Wenn Sie ihm nicht zuvorkommen können und er zuerst zuschlägt: Schützen Sie Ihren Schädel. Statistiken belegen, dass die Quote beinahe bei 100% liegt: Der Schlag geht vermutlich zum Kopf. Psychologisch und taktisch macht das auch Sinn. Schützen Sie sich wie folgt: Beide Hände erhoben, Ellenbogen zeigen zum Gegner. Bringen Sie Ihre Arme eng an den Kopf und vor das Gesicht. Und werden Sie aktiv! Harren Sie nicht aus, sondern gehen Sie aggressiv nach vorne. Schlagen Sie abwechselnd mit den Händen oder den Fäusten Richtung Kopf des Angreifers und rücken Sie vor. Dann setzen Sie sich ab – Gewaltsituationen auf der Straße sind vor allem kurz und heftig.

Bei einem Faustkampf können Sie in der Regel fliehen. Vergessen Sie Scham und Ehrgefühl, es geht um Ihre Haut. Ihr Ziel ist es, heil nach Hause zu kommen, sich um Ihre Kinder zu kümmern, den Alltag zu bewältigen. Wir befinden uns nicht in einem Actionfilm.

Was, wenn Sie gepackt oder gewürgt werden?

„In einer Schlägerei kann ich fliehen. Wenn ich gepackt werde, kämpfe ich um mein Leben.“ Tim Larkin, Interview.
Im klassischen Krav Maga werden noch immer Lösetechniken vermittelt – wenn der Gegner hier greift oder packt, winden Sie sich so heraus, wenn er von der Seite kommt, so, etc. Das kann man trainieren und es macht auch Sinn.
Zwei Gegenargumente, wegen derer ich meine Schüler anders unterrichte:

1. Filigrane Befreiungstechniken (Krav Maga enthält Jiujitsu-Techniken) sind bei massiver Gewalt und dem damit verbundenen Stress schwer umsetzbar.

2. Wenn Sie sich befreit haben, stehen Sie dem Angreifer erneut gegenüber.

Insofern: Wir befreien uns nicht, sondern wir greifen den Angreifer an. Bei sämtlichen Angriffen (mit Ausnahme dem Würgen von hinten), kann ich zum Kopf, Hals oder Genital des Angreifers schlagen. Werden Sie gepackt oder gewürgt: Schlagen Sie mit flachen Händen auf die Ohren. Stechen Sie mit beiden Daumen in die Augen, reißen Sie am Ohr. Mit aufgestellten Fingern reißen Sie im Gesicht herum, schlagen Sie unbarmherzig zu. Greifen und quetschen Sie Genitalien, hauen Sie mit der flachen Hand, schlagen Sie auf den Kehlkopf. Sind Sie dazu nicht bereit, schlagen Sie noch mal den Abschnitt „innere Einstellung“ nach. Machen Sie keine halben Sachen.

Sobald eine Wirkung erzielt ist, die Ihnen die Flucht ermöglicht, ergreifen Sie sie.

In diesem Kapitel haben wir keine komplexen Techniken aufgeführt. In einer Hochstress-Situation fehlt Ihnen die Feinmotorik. Wirksame Selbstverteidigung muss einfach und direkt sein. Gerade Schläge, Vorwärtsgang. Greifen Sie ins Gesicht, reißen Sie am Kopf herum. Selbst versierten Kämpfern gelingt unter Adrenalin oder Erschöpfung nur das Einfachste an Techniken.

Diese geraden Schläge können Sie üben. Bringen Sie Ihr Gewicht hinein, schlagen Sie hart zu. Und trainieren Sie das unter realistischen Bedingungen. Auf engstem Raum, in Rahmen eines kleinen Schauspiels aus dem Alltag; lassen Sie Ihren Trainingspartner den wütenden Aggressor oder den Angreifer spielen. Und trainieren Sie idealerweise dynamisch. Sobald Wucht und Tempo stimmen, trainieren Sie den Hinterhalt, den sogenannten Pre-Emptive Strike. Wie stark Ihr Gegner ist, ist nicht unerheblich – aber auch er ist verwundbar an Kinn, Auge, Kehlkopf.

Trainieren Sie regelmäßig

Im Ernstfall werden Sie wahrscheinlich das tun was Sie im Training üben. Kurz, hart und direkt. Und dann: Fliehen.

Egal, was Sie für Kampfmethoden oder Stil trainieren, es gilt, was Bruce Lee einst sagte:
Ich fürchte nicht den Mann, der 10.000 Kicks einmal übte, sondern den Mann der einen Kick 10.000-mal übte. – Bruce Lee.